Das Träumen

Das Träumen 

Ein Interview mit Florinda Donner
von © Alexander Blair-Ewart

Florinda Donner ist eine langjährige Kollegin und Traum-Reisegefährtin von Carlos Castaneda, und sie ist die anerkannte Autorin der Bücher Die Lehren der Hexe und Shabono. Ihr jüngstes Buch Im-Träumen-Sein - Eine  Initiation in die Welt der Zauberer (Being-in-Dreaming) ist eine autobiographische Schilderung ihrer holprigen, manchmal unfreiwilligen und oft verwirrenden Initiation in die Arbeit der toltekischen Träumer. In den USA  bereits Ende 1991 erschienen, erschien es 1996 in Deutschland. Die Anthropologin  und Zauberin Florinda Donner lebt oder lebte vielleicht in Los Angeles - Kalifornien oder möglicherweise in Sonora - Mexiko oder an beiden Orten zugleich.

Alexander Blair-Ewart: Du beschreibst zu Anfang deines Buches, wie du in einen lebendigen Mythos  hineingezogen wurdest. Kannst du uns mehr über diesen Mythos erzählen?

Florinda Donner
: Es ist ein lebender Mythos. Nun gut, der Mythos des Nagual ist zwar ein Mythos wie jeder  andere auch, aber er ist ein Mythos der wieder und wieder durchlebt wird. Dazu muß man wissen, daß der  Mythos, der für uns maßgeblich ist, vom Nagual handelt, der seinen Trupp von Leuten - Lehrlingen und  Zauberern - leitet. Übrigens bin ich gar kein Lehrling von Don Juan gewesen. Ich war Lehrling von Castaneda,  der selbst wiederum ein Lehrling von Don Juan war. Und ich bin eine der "Schwestern" der Frauen um Florinda  Grau, die mir auch ihren Namen gegeben hat. In diesem Sinne handelt es sich also um einen Mythos, der  wirklich existiert. Es hat sie übrigens nie gestört, daß ich sie Hexen nannte. Für sie hatte dieser Begriff keinen negativen Beigeschmack. Aber vom Standpunkt der westlichen Welt aus betrachtet, hat die Vorstellung von  einem Brujo oder einer Hexe immer negative Assoziationen im Schlepptau. Das interessierte die Zauberer um  Don Juan nicht im geringsten, weil für sie die abstrakte Qualität der Zauberei von vornherein jede positive oder  negative Assoziation mit diesen Begriffen ausschloß. Auf einer gewissen Ebene sind wir alle Affen, aber wir  haben da noch diese andere, magische Seite. Und in diesem Sinne leben wir einen Mythos. Mithin besagt der Mythos des Nagual aber doch auch, daß es eine ununterbrochene Linie der Tradition gibt,  die sich ausgehend von den vorzeitlichen Tolteken bis in die heutige Zeit fortsetzt.

Ich frage mich schon die  ganze Zeit, ob ich dich nicht irgendwie dazu bewegen kann, mir etwas über das grundlegende Schema des  Mythos zu verraten.

Florinda Donner
: Nun, da gibt es kein grundlegendes Schema. Das ist auch der Grund dafür, warum diese  ganze Angelegenheit so verwirrend und schwierig ist. Als ich anfangs mit diesen Leuten zu tun hatte, ging mein  ganzes Streben - oder besser gesagt meine ganze "Verwirrung", wie ich es später nannte - in die Richtung, daß ich von ihnen Regeln und Bestimmungen darüber erfahren wollte, was zum Teufel ich eigentlich zu tun hatte.  Aber da gab es keine Regeln. Es gibt keine Blaupausen. Und das, weil jede neue Gruppe ihren eigenen Weg  finden muß, die Idee vom Durchbrechen der Wahrnehmungsbarrieren auf ihre Weise zu handhaben. Die Grundvoraussetzung für das Durchbrechen der Barrieren unserer Wahrnehmung ist nach Don Juan, daß man  genügend Energie dazu haben muß. Aber all unsere Energie ist bereits in der Alltagswelt im Einsatz, um die  Idee des Selbst - was wir sind, was wir darstellen wollen und wie andere Menschen uns wahrnehmen - aufrecht  zu erhalten. Und da, wie Don Juan zu sagen pflegte, bereits 90% unserer Energie in diesem Tun gebunden ist,  kann einfach nichts Neues zu uns kommen. Uns stehen keine Alternativen offen, weil wir, egal wie selbstlos  bzw. "egolos" wir sind, oder vorgeben zu sein, oder wie gerne wir glauben würden, daß wir es sind, es  letztendlich doch nicht sind. Selbst sogenannte "erleuchtete" Menschen, oder die Gurus, die ich getroffen habe,  machen da keine Ausnahme. Es hat eine Zeit gegeben, da ist Carlos mit mir zusammen um die Welt gereist, um  möglichst viele verschiedene Gurus zu treffen, und wir haben festgestellt, daß das Ego solcher Leute meist  geradezu gigantisch in der Hinsicht war, wie sie von der Welt wahrgenommen werden wollten. Und das ist laut  Don Juan genau das, was uns umbringt. Nichts ist uns dann mehr offen.

Also kümmert sich ein echter Nagual oder Seher nicht darum, wie die Welt ihn oder sie wahrnimmt - oder tun  sie das doch?

Florinda Donner
: Nein, das tun sie nicht. Aber sie müssen immer noch darum kämpfen. Castaneda kämpft  damit immerhin schon über 30 Jahre. Und ich bin jetzt bereits über 20 Jahre lang damit beschäftigt, und kämpfe  immer noch. Es ist einfach kein Ende in Sicht.

Ist das die wahre Natur der Schlacht, in der ihr kämpft? Ich benutze diesen Ausdruck, weil ihr die Sprache der  Krieger sprecht. Was ist die wahre Natur der Schlacht. Was bekämpft ihr?

Florinda Donner
: Das Selbst.

Das Selbst.

Florinda Donner
: Es ist eigentlich noch nicht einmal das Selbst, das wir bekämpfen; es ist unsere Vorstellung  vom Selbst. Denn wenn wir wirklich das Selbst unter der Oberfläche erreichen würden, müßten wir feststellen,  daß wir in Wirklichkeit keine Ahnung haben, was es ist. Und es ist tatsächlich möglich, diese Idee, diese  bombastische Vorstellung, die wir von unserem Selbst haben, einzuschränken. Es spielt dabei übrigens keine  Rolle, ob diese übersteigerte Selbstvorstellung positiver oder negativer Natur ist. Die Energie, die eingesetzt  wird, um diese Vorstellung aufrecht zu erhalten, ist in jedem Fall die gleiche.

Also liegt in eurer Tradition ein wesentlicher Schwerpunkt darauf, das zu überwinden, was ihr die eigene  Wichtigkeit nennt.

Florinda Donner: Die eigene Wichtigkeit, ganz genau. Sie ist der Hauptfeind im Kampf aller Krieger. Und es  geht dabei letztendlich darum, den inneren Dialog abzustellen. Denn selbst wenn wir uns irgendwo an einem  einsamen Ort isolieren, sprechen wir doch immer noch ständig mit uns selbst. Dieser innere Dialog hört niemals  auf. Und was macht er, der innere Dialog? Er rechtfertigt sich andauernd selbst, egal womit. Wir spielen  Situationen und Ereignisse nach, fragen uns, was wir hätten sagen oder tun können, was wir fühlen oder nicht  fühlen. Und die Betonung liegt dabei ständig auf "ich". Wir rasseln ständig dieses Mantra runter - "ich...,  mein..., mich..." -, entweder laut ausgesprochen oder eben in Gedanken.

Also tut sich eine Öffnung auf, wenn...

Florinda Donner: ...wenn dieser innere Dialog verstummt. Ganz automatisch. Wir müssen gar nichts tun, um  das zu erreichen. Und das ist auch einer der wesentlichen Gründe, warum Leute Castanedas Arbeiten als  Fiktion zurückweisen: weil es zu einfach ist. Aber gerade diese schiere Einfachheit macht es für uns zur  härtesten Aufgabe, die wir zu bewältigen haben. Inklusive mir selbst sind wir etwa sechs Leute in unserer Welt,  die alle das selbe Streben teilen. Und die Schwierigkeit, mit der wir alle zu kämpfen haben, ist, den inneren  Dialog vollständig zum Verstummen zu bringen. Es funktioniert vorzüglich, solange wir uns nicht bedroht  fühlen. Aber wenn bestimmte Knöpfe gedrückt werden, dann zeigt sich immer wieder, wie tief unsere  Reaktionen bereits in uns verwurzelt sind, und wie leicht es ist, unsere Reaktionen einfach wieder auf Autopilot  zu schalten. Und laut Don Juan gibt es nur eine Übung großen Maßstabes, die als Gegenmittel hierzu dienen  kann - die Rekapitulation. Die Grundidee dabei ist es, sein ganzes Leben von Grund auf zu rekapitulieren und  mithin wiederzuerleben. Und damit ist keine psychologische Rekapitulation gemeint. Worum es letztlich geht, ist, daß du mit Hilfe der  Rekapitulation all die Energie zurückholen willst, die du im Laufe deines Lebens in all den Interaktionen mit  anderen Menschen verloren hast. Dabei beginnst du selbstverständlich mit dem gegenwärtigen Augenblick und  gehst rückwärts in die Zeit. Und wenn du eine wirklich gründliche Rekapitulation abgelegt hast, dann wirst du  feststellen, daß du im Alter von drei oder vier Jahren bereits all deine Reaktionsmuster erlernt hattest. Später  werden wir gebildeter und können diese natürlich besser verstecken, aber die Grundmuster all unserer  Interaktionen mit der Welt und unseren Mitmenschen sind bereits unumstößlich und fest etablierte Bestandteile  unseres Lebens geworden.

Wenn ich euch richtig verstehe, dann zeichnet ihr das Bild, oder besser gesagt entwickelt das Bewußtsein einer  neuen Art Mensch, der sich auf einer parallelen Linie zur Welt des Tonal, der Welt der sozialen Person bewegt. Und diese andere Welt - oder die Öffnung zu ihr - ist etwas, daß anscheinend immer schon vorhanden war.

Florinda Donner: Ja, sie ist immer vorhanden. Und sie ist für uns alle zugänglich. Aber niemand will sie  erschließen. Manche Leute mögen sogar denken, daß sie sie erschließen wollen, aber wie Don Juan richtig  festgestellt hat, sind solche Sucher schon in andere Bestrebungen verstrickt, weil eine Person, die sucht, bereits  weiß, was sie sucht. Dies ist auch dann der Fall, wenn die Person bewußt nicht zu wissen scheint, was das  Gesuchte ist.

Ja, das ist klar.

Florinda Donner: Deshalb sind auch so viele "Sucher", die zu Castaneda kommen, enttäuscht von ihm. Denn,  wenn er zu ihnen spricht, haben sie sich bereits längst genau ausgemalt, wie die Dinge sein sollten. Und sie sind  nicht offen. Selbst wenn sie zuhören, sind sie für nichts mehr offen, weil sie bereits wissen, wie es sein sollte,  und weil sie bereits wissen, was sie suchen. Deshalb bin ich auch nicht an irgendeiner therapeutischen Arbeit am Selbst interessiert. Ich interessiere mich  für Selbstverwirklichung, aber nicht für therapeutische Arbeit.

Und ich mache mir auch keine Sorgen darum,  ob daß, was ich in der Rekapitulation finden werde, etwas Hübsches, Spirituelles oder Akzeptables ist, weil ich  ganz genau weiß, daß sie genauso Elemente des Wahnsinns enthalten wird wie alles andere auch.

Florinda Donner: Exakt.

Aber das ist eine sehr beunruhigende Vorstellung für die meisten Leute.

Florinda Donner: Ja, das ist es ganz bestimmt. Du weißt, wir sind der Überzeugung, daß wir vor allem  anderen energetische Wesen sind. Don Juan sagte, daß alles davon abhängt, wieviel Energie wir zu unserer  Verfügung haben. Unsere Kraft zu kämpfen erfordert eine enorme Menge an Energie; dies gilt auch für die  Kraft, die wir benötigen, um die Vorstellung des Selbst zu bekämpfen. Und da wählen wir immer wieder den  leichtesten Weg. Wir greifen auf das zurück, was wir bereits kennen. Selbst wir tun das, wo wir doch schon so  lange in diesen Kampf verwickelt sind. Es ist eben viel leichter zu sagen, "ach, zum Teufel damit, was geht  mich das an; dann laß ich mich eben mal ein bißchen gehen." Aber das schlimme ist, daß dieses kleine bißchen  Sichgehenlassen dich direkt wieder an den Anfangspunkt zurückbefördert.

Mit einer Ausnahme, Florinda, die wir beide kennen: wenn man einmal einen bestimmten Punkt in sich selbst  überschritten hat, wenn man die innere Stille tatsächlich erreicht hat, und sei es nur für einen Moment, dann,  so glaube ich, kann man diesen Prozeß...

Florinda Donner: ...nicht mehr umkehren. Richtig. Aber um diesen Moment der Stille zu erreichen, brauchst  du Energie. Wenn du die einmal hast, kannst du den inneren Dialog anhalten. Genau das ist es was Don Juan  einen kurzen Moment der Ruhe oder auch den Kubikzentimeter Chance genannt hat. Wenn du diesen packen  kannst, verstummt der innere Dialog augenblicklich.
Und wenn dies einmal geschehen ist, wirst du nie mehr derselbe sein.

Florinda Donner: Ganz genau.

Und es kann dir passieren, daß du auf deine alten Pfade zurückkehren willst, um dich dem Sichgehenlassen  hinzugeben, aber du stellst nur fest, daß es dich nicht mehr befriedigt.

Florinda Donner: Genau so ist es. Du kannst nicht wirklich zurückkehren. Du findest keine Befriedigung mehr  in deinen alten Routinen. Das ist vollkommen korrekt. Ich denke, daß, wenn wir wirklich an diesen Punkt  gelangen... nein, laß es mich anders formulieren: daß, wenn eine kritische Masse von Menschen zu diesem  Gefühl oder diesem Wissen gelangt, wir die Zustände in unserer Welt ändern könnten. Der Grund, warum sich  nichts verändert, ist, weil wir als Einzelne nicht dazu bereit sind, uns selbst zu ändern, egal ob es sich dabei um  politische Dogmen, ökonomische oder soziale Fragen, oder was auch immer handelt. Schau dir doch nur mal  die Kacke an, die wir zur Zeit im Zusammenhang mit den Regenwäldern und der Umwelt aufrühren. Wie  können wir von jemandem anderen erwarten, daß er sich gefälligst zu verändern habe, wenn wir selbst nicht  dazu bereit sind, uns zu ändern. Und die Veränderungen, die allgemein angestrebt werden, sind ein einziger  Schwindel; es handelt sich dabei lediglich um Umstrukturierungen und Neuordnungen der selben alten  Bestandteile, aber es ist keine wirkliche Veränderung. Im Grunde sind wir räuberische Wesen. Das hat sich in  uns nicht verändert. Und wir könnten diese räuberische Energie - anstatt zur Vernichtung - dazu einsetzen,  unseren Kurs zu ändern, aber wir sind nun eben mal nicht bereit uns selbst zu ändern.

Ich möchte jetzt noch einmal auf den Mythos zurückkommen. Dort wird der einzelne Seher und auch der  Nagual von der Vorsehung, dem Unbekannten, dem Unsagbaren ausgewählt.

Florinda Donner: Ausgewählt ist das richtige Wort. Carlos ist im energetischen Sinne "angeschlossen"  worden. Aber unsere energetische Konfiguration ist nicht die gleiche, wie in Don Juans Trupp; und das liegt  daran, daß manche Menschen im energetischen Sinne grundsätzlich verschieden sind. Carlos ist ein  sogenannter dreizackiger Nagual, während Don Juan ein vierzackiger Nagual war. Aber was ist es, was sie  letztendlich zum Nagual, zum Anführer macht? Vor allem die Tatsache, daß sie über mehr Energie verfügen als  der Rest der Gruppe. Seltsam ist allerdings etwas anderes: warum zum Teufel sind immer wieder Männer die  Naguals? Wir haben zwar auch Nagual-Frauen in unserer Linie, aber die Männer hatten immer das größere  Energiepotential, zumindest diejenigen, die bislang ausgewählt wurden. Das macht sie jedoch noch lange nicht  zu etwas Besserem als dem Rest der Gruppe. In Don Juans Welt gab es Leute, die unendlich viel spiritueller,  besser vorbereitet und kenntnisreicher waren als er selbst, aber das machte keinen Unterschied. Es geht  letztendlich nicht darum, daß der Nagual besser oder schlechter in irgendwelchen Eigenschaften oder  Fähigkeiten ist. Es geht nur darum, daß er die spezielle Energie hat, die ihn zum Anführer macht.

Aber er kann diese Energie doch auch auf andere Leute übertragen, um ihnen einen energetischen Anstoß zu  geben.

Florinda Donner: Wir zapfen diese Energie an, ja. Aber es ist nicht so, daß du diese Energie im wörtlichen  Sinne bekommst. Die Energie des Nagual dient ihm und uns unter anderem dazu, nicht dem zu verfallen, was  immer uns die Welt auch anbieten mag. Ein Beispiel, um das zu verdeutlichen: während der langen Zeit, die ich  mit Castaneda verbracht habe, sind ihm unglaubliche weltliche Reichtümer und Vorzüge angeboten worden.  Aber er ist nie von seinem Weg abgewichen. Ich persönlich könnte nicht guten Gewissens behaupten, daß ich,  wenn ich für so viele Jahre in seiner Position gewesen wäre, so makellos und standhaft geblieben wäre. Ich  fühle mich verpflichtet, das hier auf diese Weise öffentlich anzuerkennen, weil der Versuch bestimmte Dinge  zu verbergen, das Schlimmste ist, was wir überhaupt tun können. Und ich fühle mich ebenso verpflichtet,  Castanedas Makellosigkeit zu bezeugen; ich will damit sagen, es sind ihm unbeschreibliche weltliche Güter  angeboten worden, die er jedoch immer abgelehnt hat. Und dazu braucht man Energie. Das ist der Punkt, an  dem die Energie ins Spiel kommt, und der Punkt, an dem man den Nagual als Führer der Gruppe braucht, um  einem zu sagen, wo es lang geht. Wenn in so einer Situation jemand anders in der Position des Nagual wäre,  der nicht die entsprechende Energie hat, er würde der Versuchung sicherlich erliegen, und im Sinne seines  eigentlichen Strebens scheitern.

Aber kann denn ein Nagual nicht der Versuchung nur vorläufig oder zeitweilig erliegen, und dann wieder auf  seinen wahren Weg zurückkehren?

Florinda Donner: Nein. Da besteht keine Chance.

Wie kommt das?

Florinda Donner: Um das zu erklären, muß ich wieder auf den Mythos zurückgreifen. Der Vogel der Freiheit  fliegt immer nur in einer geraden Linie. Weder hält er für dich an, noch wird er sich umdrehen, um ein zweites  Mal an dir vorbeizufliegen. Eine winzige Möglichkeit, die dir bleibt, ist dir selbst zu sagen, daß du dann eben  schneller hinter ihm herlaufen mußt, um dein Ziel vielleicht doch noch zu erreichen. Was das alles bedeutet? Es  ist natürlich eine Metapher.

Also arbeitet der Nagual daran, auf verschiedene Weisen die vollständige Entfaltung des Mythos zu  gewährleisten.

Florinda Donner: Don Juan hatte mehr Leute, die hinter ihm standen und ihn unterstützten. Energetisch  gesehen hatte er eine größere Masse, was ihn dazu befähigte, dich praktisch in eine beliebige Situation  hineinzuziehen und dich so ganz nach seinem Gutdünken an einen bestimmten Platz zu befördern. Carlos  macht das nicht so. Ganz gleich, mit welchen Leuten er auch arbeitet - zur Zeit sind wir sechs -, für ihn ist alles  immer eine Frage der Entscheidung des Einzelnen. Und das ist alles. Unsere Entscheidung ist alles, was zählt,  und andere Bedingungen gibt es nicht. Er redet uns weder ins Gewissen, noch bettelt er uns an; und er schreibt  uns auch nicht vor, was wir zu tun oder zu lassen haben. Wir müssen selbst wissen, was wir wollen. Er würde  nie etwas tun, um uns zu zwingen, auf diesem Weg zu bleiben. Unterschiedliche Naguals, unterschiedliche Vorgehensweisen.

Das leuchtet ein. Ich habe gehört, daß Carlos  Castaneda von verschiedenen Leuten als "Nagual der Pirscher" bezeichnet wurde. Ist das tatsächlich so?

Florinda Donner: Ja, schon, aber ich würde sagen... ich weiß nicht. Er ist ein Träumer.

Richtig, das wird auch irgendwo erwähnt.

Florinda Donner: Ja, und was ist das, diese Idee vom Träumen; diese Idee, gleichzeitig zu träumen und doch  vollkommen wach und bewußt zu sein? Es ist ein anderer Zustand des Bewußtseins. Und du bist dabei nicht  etwa ausgeflippt oder auf irgendeinem Trip; nein, du bist vollkommen normal und kohärent, aber irgend etwas  in dir läuft energetisch auf einer ganz anderen Ebene ab.

Du zielst auf etwas ganz bestimmtes ab.

Florinda Donner: Ja.

Du zielst darauf ab, daß es darum geht, zu lernen, zwei Welten gleichzeitig zu betrachten.

Florinda Donner: Genau. Und wieder geht es darum, die Wahrnehmungsbarrieren zu durchbrechen, diesmal in  Hinsicht auf das, was wir sehen. Was immer wir auch wahrnehmen, und egal was es auch sein mag: die  Möglichkeiten unserer Wahrnehmung wurden von der sozialen Ordnung definiert. Und wir haben gelernt, diese  Definitionen in konkrete Wahrnehmungen zu übertragen. Auf einer intellektuellen Ebene sind wir durchaus  bereit zu akzeptieren, daß die Wahrnehmung ein kulturell definiertes Phänomen ist, aber wir sind nicht bereit,  dies auf irgend einer anderen Ebene zu akzeptieren. Aber das ist absurd, weil Wahrnehmung auf anderen  Ebenen existiert. Und ich kann aus meinen eigenen Erfahrungen mit den Zauberern heraus - und ich befinde  mich ja offensichtlich auch in der Alltagswelt - nur sagen, daß es durchaus möglich ist, zwei Welten  gleichzeitig wahrzunehmen und in beiden vollkommen kohärent, in beiden makellos zu sein.

Erzähle uns etwas über das Konzept der Makellosigkeit. Was ist Makellosigkeit?

Florinda Donner: Makellosigkeit bedeutet, ganz genau zu wissen, was du zu tun hast. Und das gilt ganz  besonders für Frauen, weil wir gewöhnlich zu sehr unterwürfigen Wesen erzogen werden. Frauen sind so  unterwürfig und klein, daß es schon fast unglaublich ist. Und ich will damit durchaus nicht sagen, daß Männer  das nicht sind, aber, egal wie man es dreht und wendet, die Männer sind letztendlich doch immer auf der  Siegerseite. Es spielt dabei auch keine Rolle, ob sie Verlierer sind oder nicht - sie sind immer noch männlich.  Unsere Welt ist eine Männerwelt, egal, ob es ihnen darin gut ergeht oder nicht, egal, ob sie von feministischen  Ideologien überzeugt sind oder nicht, es spielt wirklich keine Rolle. Die Männer sind die Gewinner in unserer  Gesellschaft.

In deinem Buch sprichst du auch davon, wie die Frauen durch ihre Angliederung an die männliche Sexualität  versklavt werden. Kannst du darüber mehr erzählen?

Florinda Donner: Aber natürlich. Zuerst ist da die Vorstellung der Zauberer, daß durch den  Geschlechtsverkehr eine Art Nebel erzeugt wird; eine Vorstellung, die mich damals so schockiert hat, daß ich  sie sehr lange verleugnet habe und es vehement abgelehnt habe, dies in irgendeiner Form zu glauben. Aber die  Zauberer ließen mich nicht in Ruhe. Sie erklärten mir weiter grundsätzlich, daß das, was in Wirklichkeit beim  Geschlechtsverkehr vor sich geht, folgendes ist: wenn der Mann ejakuliert, gelangt nicht nur sein Sperma in  unserem Körper, sondern auch etwas, das Don Juan als "Energiewürmer" bezeichnete; energetische Leucht- fäden, die die Spermien in diesem Moment des energetischen Ausbruchs tatsächlich sind. Und diese  Energiewürmer bleiben für sieben Jahre lang im Körper der Frau aktiv. Vom bio-logischen Standpunkt aus  betrachtet, garantieren diese Würmer oder Energiefasern, daß der Mann immer wieder zur gleichen Frau  zurückkehrt, und daß er sich weiterhin auch um den Nachwuchs kümmert. Der Mann wird auf einer rein  energetischen Ebene anhand dieser Fasern sogar feststellen können, daß und ob es sich bei Kindern um seine  eigenen Nachkommen handelt.

Und wie sieht es mit dem Austausch von Energie beim Geschlechtsverkehr aus?

Florinda Donner: Sie ernährt den Mann energetisch. Don Juan ist der Überzeugung, daß die Frauen die  Ecksteine des Fortbestands der menschlichen Spezies sind, und daß der Großteil der Energie von den Frauen  kommt. Und diese Energie wird nicht nur für Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt und zur Pflege und  Ernährung des Nachwuchses eingesetzt, sondern auch dazu, den Platz des Mannes in diesem ganzen Prozeß zu  sichern.

Nehmen wir mal an, du hast recht, und die Frauen werden tatsächlich durch diesen Nebel versklavt. Wie befreit  sie sich selbst daraus?

Florinda Donner: Wenn wir das ganze aus einem biologischen Blickwinkel heraus betrachten, ist sie dann  tatsächlich versklavt? Die Zauberer sagen ja, und zwar in dem Sinne, daß sie sich selbst in diesem Prozeß  immer nur durch die Augen der Männer betrachtet. Sie hat gar keine andere Wahl. Die Diskussion dieses  Themas machte mich damals vollkommen verrückt; ich ging mit ihnen immer wieder alle einzelnen Punkte  durch, um wieder ganz am Anfang zu beginnen und es erneut durchzukauen. Du mußt wissen, das war in den  frühen siebziger Jahren, als die Frauenbewegung ihren Höhepunkt hatte. Und ich sagte ihnen: "Nein, die Frauen  haben es weit gebracht. Schaut euch doch einfach mal an, was sie alles erreicht haben." Und sie sagten einfach  nur: "Nein, sie haben überhaupt nichts erreicht." Für sie war das Ergebnis der sexuellen Revolution - und sie  waren durchaus nicht prüde oder an irgend welchen Moral-vorstellungen interessiert, sondern nur an Energie -  und der sexuellen "Befreiung" der Frauen, daß die Frauen dadurch in gewisser Weise noch stärker in die  Sklaverei gerieten, weil sie plötzlich energetisch nicht mehr nur einen einzigen Mann durchfütterten, sondern  gleich viele Männer auf einmal.

Das ist höchst interessant.

Florinda Donner: So hielten sie diese ganze Idee von der sexuellen Revolution und der sexuellen  "Emanzipation" der Frau für absurd. Und was auch immer zur Zeit geschieht, Don Juan hat dies bereits in den  siebziger Jahren vorhergesagt. Er sagte, daß die Frauen damit auf die Nase fallen würden. Sie würden letztlich  nur geschwächt werden. Und das ist genau so eingetreten. Die wenigen Frauen, mit denen ich im Rahmen  meiner Vorträge und Buchlesungen über dieses Thema gesprochen habe, haben mir in dieser Hinsicht voll  zugestimmt. Das ist doch sehr interessant, oder? Und dabei hatte ich zuerst befürchtet, daß ich mit diesem  Thema einige Schwierigkeiten bekommen würde. Aber gerade die Frauen, die im Prozeß dieser sogenannten  "Befreiung" viele Liebhaber gehabt haben, sagten, daß sie völlig erschöpft seien, ohne zu wissen warum.

Also reden wir über etwas, das weit über das rein Sexuelle hinausgeht.

Florinda Donner: Ja, und das vor allem in der Hinsicht, daß die Gebärmutter - jenseits des sexuellen Aspekts -  ursprünglich dafür sorgt, daß die Frauen diejenigen sind, die dem Geist am nächsten stehen. Dies meine ich  natürlich in Hinsicht auf den Prozeß der Annäherung an das Wissen im Sinne des Im-Träumen-Seins. Der  Mann baut Stufe um Stufe dem Wissen entgegen und nähert sich diesem mithin "kegelförmig" an. Aber die  Definition des Kegels besagt bereits, daß dieser Prozeß an der Spitze des Kegels sein definitives Ende findet.  Und das ist ein energetisches Prinzip. Der Mann strebt nach dem Wissen, weil er dem Geist - oder wie immer  wir diese gewaltige Kraft dort draußen nennen mögen - eben nicht nahe ist. Den Zauberern zufolge sind die  Frauen nun das genaue Gegenteil. Der Kegel ist umgekehrt, wie ein Trichter. Sie haben eine direkte  Verbindung zum Geist; und das liegt nach Meinung der Zauberer daran, daß die Gebärmutter nicht nur ein  Reproduktionsorgan ist; sie ist ein Organ des Träumens, eine Art zweites Gehirn.

Oder Herz.

Florinda Donner: Oder Herz, wenn du so willst. Und sie ergreifen das Wissen durch dieses Organ direkt und  ohne langwierige Erklärungen. Dennoch hat man uns es nie erlaubt - weder in unserer Gesellschaft, noch in  irgendeiner anderen - mitzubestimmen, mit zu definieren, was Wissen eigentlich ist. Und die paar wenigen  Frauen, die an der Formulierung und Schöpfung der Wissensgebäude unserer Zeit mitarbeiten, tun dies  ausschließlich in männlichen Begriffen. Nehmen wir zum Beispiel eine Frau, die in der Forschung arbeitet.  Wenn sie sich nicht an die Regeln hält, die bereits durch den männlichen Konsens etabliert worden sind, wird  sie keine Chance zur Veröffentlichung ihrer Arbeiten bekommen. Sie kann vielleicht sogar ein wenig vom  Konsens abweichen, vorausgesetzt, sie bleibt innerhalb der vorgegeben Matrix. Frauen ist es nicht erlaubt,  irgend etwas anderes zu unternehmen.

Und die Zauberinnen stehen nicht mehr länger im Bann dieser kollektiven Hypnose.

Florinda Donner: Zumindest nicht mehr innerhalb der gesellschaftlichen Matrizen. Es ist übrigens sehr  interessant, daß du die Idee der Hypnose ansprichst, weil Don Juan immer wieder sagte, daß wir zu der Zeit, als  die Psychologie Freud hervorbrachte, geschlafen haben, wir zu passiv waren. Damals hätten wir die Wahl  gehabt, entweder Mesmer oder aber Freud zu folgen. Wir sind mesmerische Wesen. Wir haben diesen  alternativen Pfad nie wirklich ausgearbeitet...

Ja. Den Pfad der Energie.

Florinda Donner: ...und dies alles wäre uns niemals passiert, wenn Freud damals nicht die Oberhand  gewonnen hätte.

Nun gut, aber die hat er inzwischen verloren.

Florinda Donner: Nein, nicht wirklich. Schau dir doch an, was wir machen. Und wer weiß, wie viele  Generationen es brauchen wird, um dies wirklich zu ändern. Natürlich hast du in der Hinsicht recht, daß er  seine intellektuelle Vormachtstellung verloren hat, und daß ihm in wissenschaftlichen Kreisen kaum noch  jemand folgt. Aber seine Lehren sind in unser kulturelles Gepäck übernommen worden... Wir reden und denken  immer noch in den von ihm geprägten Mustern und Begriffen, ja selbst solche Leute, die gar nicht wissen, wer  Freud war. Seine Ideen sind Teil unserer Sprache, Teil unserer Kultur geworden.

Ja, das weiß ich. Es ist immer wieder sehr frustrierend, mit Leuten umzugehen, die die gesamte Wirklichkeit von  diesem abgedroschenen Standpunkt aus angehen.

Florinda Donner: Ja. Und die meisten wissen nicht einmal, woher diese Ideen kommen. Sie sind Teil unseres  kulturellen Gepäcks.

Und eine Zauberin ist diesen Bedingungen nicht mehr unterworfen, sie ist frei davon.

Florinda Donner: Nun, frei in der Hinsicht, daß du, wenn du einmal erkannt hast, was die soziale Ordnung  wirklich ist, nämlich eine Übereinkunft, zumindest vorsichtiger wirst und nicht alles unbesehen akzeptierst. Die  Leute sagen: "Aber sieh doch ein, wie verschieden das Leben heute im Vergleich mit dem zu den Zeiten deiner  Mutter oder gar deiner Großmutter ist." Und ich sage, daß es das nicht ist. Es ist nur graduell verschieden. Aber  nichts ist wirklich anders. Wenn ich mein Leben so gelebt hätte, wie man es für mich vorgesehen hatte... nun ja,  ich wäre ein wenig gebildeter, ich hätte gesellschaftlich gesehen bessere Chancen gehabt. Aber das war es dann  auch schon. Ich wäre letztendlich genau da gelandet, wo meine Mutter und Großmutter gelandet sind: im  "Hafen" der Ehe, frustriert, mit Kindern, die ich inzwischen sicherlich hassen würde, oder die mich hassen  würden.

Ich versuche schon die ganze Zeit, dich dazu zu bringen, darüber hinauszugehen, um von dir zu erfahren, was  nun passiert, wenn du einmal diese Knechtschaft erkannt hast und nun damit beginnst, dich daraus zu befreien.  Was ist es, was sich deiner Wahrnehmung dann erschließt?

Florinda Donner: Alles.

Alles. Nun gut.

Florinda Donner: Erst einmal lernst du, in deinen Träumen zu sehen. So schreibe ich zum Beispiel meine  Bücher im Träumen. Es ist nicht so, daß ich dann in der Alltagswelt keine Arbeit mehr damit hätte, aber das  Material kommt im Träumen.

Du verwendest den Begriff "Träumen" in diesem Zusammenhang in einem ganz speziellen Sinn, der in eurer  Tradition begründet liegt. Kannst du uns sagen, was dieses "Träumen" ist?

Florinda Donner: Im traditionellen Sinne geht es um folgendes: Wenn wir einschlafen und beginnen, in einen  Traumzustand zu geraten, in diesem Moment, in dem wir halb wach sind und bereits halb schlafen, das weißt  du aus den Büchern von Castaneda, beginnt der Montagepunkt zu zittern, er beginnt sich zu verschieben. Und  der Zauberer versucht nun, diese natürliche Verschiebung (die übrigens bei jedem von uns vorkommt) dazu zu  nutzen, sich mit ihrer Hilfe in andere Sphären hineinzubewegen. Und, um das zu erreichen, brauchst du eine  außerordentliche Energie. Wieder einmal läuft alles auf die Frage der Energie hinaus. Wir benötigen eine  außergewöhnlich große Menge Energie, weil man sich dieses Schwellen-moments bewußt sein will, und  versucht, diesen zu nutzen, ohne dabei gleich aufzuwachen.

Ja, das ist wahrhaftig eine sehr große Errungenschaft.

Florinda Donner: Für mich ist es sehr leicht, in einen solchen Zustand einzutreten und ihn zu nutzen. Das  schwierige für mich war, daß ich damals keinerlei Kontrolle - wenn ich sie auch jetzt habe - über diese  Zustände hatte, wenn es darauf ankam. Aber ich konnte mich sehr leicht in diesen Zustand hineinversetzen, den  sie... was ich sagen will, ist, daß die Zauberinnen keinerlei Interesse daran hatten, diesen Zustand als "zweite  Aufmerksamkeit" zu bezeichnen; sie nannten diesen Zustand lieber "Wachträumen", weil es letztlich auch  genau darum geht. Du kannst verschiedene Stufen erreichen, wobei man auch einen Punkt erreichen kann, an  dem man die gleiche Kontrolle über seine Traumzustände hat, wie die, die man üblicherweise in seiner  Alltagswelt hat. Und genau das ist es, was die Zauberer praktizieren. Für sie hat beides den gleichen Rang. Da  gibt es keinen Unterschied mehr.

Heißt das, daß du jetzt tatsächlich dazu fähig bist, in einer anderen Wirklichkeit zu existieren?

Florinda Donner: Nun, das weiß ich wirklich nicht. Du mußt verstehen, wir haben gar nicht die Sprache, um  uns wirklich darüber zu unterhalten, außer in Anlehnung an Begriffe aus dem Bereich des Bekannten. Und  daher ist die seltsame Antwort auf die Frage, "Existiere ich in einer anderen Wirklichkeit?", gleichzeitig ja und  nein. Es ist wirklich nicht ganz richtig, diese Frage zu bejahen, weil wir es letztlich mit einer Wirklichkeit zu  tun haben. Es gibt da keinen Unterschied. Man könnte sagen, daß es sich um verschiedene Schichten handelt,  so wie bei den Häuten einer Zwiebel. Aber es ist alles das gleiche. Und es wird langsam ziemlich bizarr. Wie  soll ich denn darüber reden? In Metaphern? Aber unsere Metaphern sind ebenfalls bereits durch das geprägt,  was wir kennen und wissen.

Ja, das ist das Problem der Sprache.

Florinda Donner: Du siehst, wir haben einfach keine Sprache, um zu beschreiben, was wirklich passiert, wenn  wir uns in der "zweiten Aufmerksamkeit" oder in einem Zustand des "Wachträumens" befinden. Aber es ist  genauso wirklich, wie jede andere Wirklichkeit auch. Was ist Wirklichkeit? Es ist, um es nochmals zu sagen,  ein Konsensus, eine Übereinkunft. Unser Problem ist, daß wir dem nur auf einer intellektuellen Ebene  zustimmen. Aber man kann mehr tun, als dem nur intellektuell zuzustimmen. Man kann es praktisch umsetzen,  indem man sich auf andere Schichten der einen Wirklichkeit begibt. Und um das zu tun, braucht man - und  damit sind wir wieder bei diesem zentralen Punkt angelangt - genügend Energie. Davon hängt letztlich alles ab.

Das stimmt. Aber es hängt doch auch von dem ab, was ihr "Absicht" nennt.

Florinda Donner: Ganz genau. Aber um dich selbst an die Absicht anzukoppeln... Schau, die Absicht ist da  draußen und sie ist eine Kraft. Don Juan hatte kein Interesse an Religion, aber auf seltsame Weise könnte diese  Kraft genau das sein, was wir gemeinhin als Gott bezeichnen, das oberste Wesen, die eine Kraft, der Geist. Du  siehst, jede Kultur kennt die Absicht unter anderem Namen. Wenn du dich nun an die Absicht ankoppeln willst,  dann solltest du, wie Don Juan sagte, nicht darum betteln, sondern darum bitten, es mithin einfach verlangen.  Und um darum zu bitten, es einfach zu verlangen, benötigt man Energie. Und du brauchst diese Energie nicht  nur, um dich selbst an die Absicht anzukoppeln, sondern auch dazu, angekoppelt zu bleiben.

Ja. Also ist die Sache mit der Absicht, obschon das Wort nicht schwer auszusprechen ist, eine recht vertrackte  und komplexe Unternehmung.

Florinda Donner: Ja, genau, eine sehr komplexe Angelegenheit. Wenn Don Juan und seine Leute über  Zauberei und Hexerei sprachen, dann kümmerten sie sich einen Dreck um das, was wir gewöhnlich damit  verbinden; und dies nicht nur hinsichtlich der negativen Assoziationen mit diesen Begriffen, sondern auch  bezüglich dessen, was wir gemeinhin als "Verfahrensweisen" oder "Praktiken" bezeichnen. Für sie ist Zauberei  eine sehr, sehr abstrakte Angelegenheit. Sie verstanden die Zauberei selbst als eine Abstraktion, als die Idee, die  Grenzen der Wahrnehmung zu erweitern. Sie sagen, daß die Alternativen, zwischen denen wir in unserem  Leben wählen können, durch die soziale Ordnung begrenzt sind. Wir haben grenzenlose Möglichkeiten, aber,  indem wir jene Alternativen als verbindlich akzeptieren, begrenzen wir selbstverständlich unsere ursprünglich  unbegrenzten Möglichkeiten.

Und doch scheint der Mensch...

Florinda Donner: ...ständig auf der Suche nach dem zu sein, was......

verloren...

Florinda Donner: ...verloren oder einfach nur von der sozialen Ordnung in einen Käfig gesteckt worden ist.  Sofort nach unserer Geburt legt man uns Scheuklappen an. Schau dir doch an, wie wir ein Kind dazu zwingen,  auf die gleiche Art wahrzunehmen, wie wir wahrnehmen.

Ja, die Übermittlung der Kultur.

Florinda Donner: Das ist das perfekte Beispiel. Kinder nehmen wahrhaftig mehr wahr, offensichtlich sogar  sehr viel mehr. Aber sie müssen früher oder später Ordnung in dieses Chaos der Wahrnehmung bringen, und  wir - als die ewigen Schulmeister - helfen ihnen selbstverständlich gerne dabei, und zeigen ihnen, was innerhalb  unserer Gruppe den Anstandsregeln der Wahrnehmung entspricht. Und wenn sie sich nicht an diese Regeln  halten, mein Gott, dann pumpen wir sie mit Drogen voll oder stecken sie aus "therapeutischen Gründen" in eine  geschlossene psychiatrische Anstalt.

Es hat verschiedene Traditionen gegeben wie die eure, die bereits eine lange, lange Zeit existierten, aber von  deren Existenz wir erst in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren erfahren. Warum hat Castaneda seine  Bücher geschrieben?

Florinda Donner: Weil es seine Aufgabe war. Eine Aufgabe der Zauberei, die Don Juan ihm aufgetragen hatte.  Castaneda ist der Letzte seiner Linie. Da ist niemand anders mehr. Da ist nur noch eine kleine Gruppe von  Indianern, mit denen wir zusammenarbeiten. Dazu mußt du wissen, daß Don Juan seltsamerweise in Hinsicht  auf Castaneda einen Fehler machte, als sie sich zuerst begegneten. Wer weiß, ob es überhaupt ein wirklicher  Fehler war; aber was auch immer das Zeichen der Kraft, des Geistes gewesen ist, welches Don Juan mit  Castaneda verband, er interpretierte es auf seine Weise, und begann für seinen vermeintlich gleichen  Nachfolger Leute zu sammeln. Jenen Kreis von Lehrlingen, den Castaneda in Der zweite Ring der Kraft und in  Die Kunst des Pirschens beschreibt, wo er über die Leute aus Oaxaca, die Schwesterchen und all diese anderen  Leute spricht. Und dann - Jahre später - erkennt Don Juan, daß Carlos einen ganz anderen Weg gehen muß,  weil er selbst anders ist. Castaneda ist noch abstrakter, als Don Juan es war. Sein Weg ist ein völlig  verschiedener Weg. Und dann sammelte Don Juan diese andere Gruppe von Leuten zusammen, denn wir - die  Leute, die jetzt mit Castaneda zusammen sind - trafen Don Juan alle lange bevor wir das erste Mal mit  Castaneda in Kontakt kamen. Zu jener Zeit waren wir zu fünft - vier von uns und Castaneda.

Also war es eine Aufgabe der Zauberei, diese Bücher zu schreiben. Worauf ich hinaus will, ist, warum dieses  Wissen - rein als solches verstanden - gerade jetzt zugänglich gemacht wird, und das in dieser Form, die es an  viele Millionen Leser heranträgt. Was ist die Absicht, die hinter all dem steht?

Florinda Donner: Nun, jemand soll dadurch gepackt werden. Und die Leute werden davon gepackt. Für uns  und unsere Mentalität als westliche Affen, wie Don Juan uns zu nennen pflegte, gilt, daß wir immer zuerst auf  intellektueller Ebene gepackt werden müssen, weil es nur allzu offensichtlich ist, daß dies die Art ist, wie wir  funktionieren. Als ich anfangs mit der Welt der Zauberer in Kontakt kam, ging ich noch zur Schule. Nach zwei  oder drei Jahren war ich dann soweit, meinen Abschluß zu machen und auf die Universität zu gehen. Aber die  Welt der Zauberer war mir lieber, und so sagte ich ihnen: "Was habe ich schon davon, weiter zur Schule zu  gehen? Warum sollte ich meinen Doktor machen? Das ist doch vollkommen überflüssig." Don Juan und all die  Frauen erklärten mir jedoch, daß es absolut nicht überflüssig sei, denn bevor ich irgend etwas ablehnen könne,  müsse ich es erst einmal in seinen Feinheiten verstehen. Einfach nur zu sagen, ich sei nicht an Philosophie oder  nicht an Anthropologie interessiert, sei vollkommen bedeutungslos. Soetwas könne ich frühestens dann sagen,  wenn ich zumindest einige Versuche gemacht hätte, mich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Sie sagten  mir, daß ich keinen vernünftigen Grund vorbringen könne, diese Dinge abzulehnen, und daß ich, wenn ich  mich in diese Welt der "zweiten Aufmerksamkeit" und des "Wachträumens" hineinstürze, einen klaren und gut  trainierten Verstand brauchen würde, um wieder aus diesen Zuständen aufzutauchen und wirkliches Wissen mit  an die Oberfläche zu bringen. Und wenn ich nicht den Grips oder den Verstand hätte, das zu tun, dann könne  ich genausogut in die Wüste gehen und dort mit Steinen umherschmeißen; weil es bedeutungslos sei. Und für  sie war es sehr wichtig, daß wir alle in dieser Hinsicht gut trainiert waren. Jedes Mitglied unserer kleinen  Gruppe hat einen akademischen Grad. Da gibt es Historiker, Anthropologen und Bibliothekare.

Also ist dieses Wissen Millionen von Menschen zugänglich gemacht worden, damit einzelne Leute davon  gepackt werden.

Florinda Donner: Auf einer Ebene werden sie das, ja.

Und bedeutet das auch, daß sich die Tradition nun auf diese Weise weiterexistiert, indem sie sich selbst  überliefert?

Florinda Donner: Ich weiß es nicht. Wenn ich von Castanedas Post ausgehe, die er übrigens nicht liest, dann  würde ich sagen, ja. Aber dann ist wiederum das meiste von diesem Zeug... Was ich sagen will, ist, daß ich von  Zeit zu Zeit Briefe öffne und lese, und die meisten davon sind völlig verrückt, von Spinnern geschrieben.  Manche Briefe enthalten auch sehr, sehr ernsthafte Anfragen, aber die meisten wurden offensichtlich von  Leuten geschrieben, die wirklich einen Sprung in der Schüssel haben. (Florinda lacht) Und ich meine das  wörtlich, diese Leute haben wirklich einen Sprung. Wie etwa, "Ich bin der neue Nagual," oder "Ihr habt mich  neulich in meinen Träumen besucht." Ich meine wirklich bizarre Sachen. Nun, wie du weißt, gibt es verschiedene Abstufungen, was das angeht.

Aber ich denke, daß ihr Frauen, ihr  Zauberer, und die ganze Castaneda'sche Realität das kollektive Bewußtsein der breiten Masse, vor allem in  Nordamerika, tatsächlich recht stark beeinflußt habt.

Florinda Donner: Da hast du völlig recht, und es gibt eine Menge Arbeit für uns da draußen. Es gibt eine  Menge Leute, die unsere Bücher lesen. Und einige dieser Leute nehmen diese Sachen wirklich sehr ernst.

Und manche von diesen Leuten sind Nicht-Eingeborene, die sich in Folge dessen nun sehr stark mit  eingeborener Spiritualität befassen. In diesem Sinne hat die Arbeit eurer Gruppe einen gewaltigen belebenden  Effekt auf die Spiritualität der Eingeborenen Amerikas gehabt, denn man sieht, daß diese stärker denn je  versuchen, zu ihren eigenen Traditionen zurück zu finden.Und sie gehen tatsächlich zurück zu ihren eigenen  Wurzeln.

Florinda Donner: Aber das ist doch das genaue Gegenteil von dem, was Don Juan wollte. Schau, sein  Standpunkt war doch, das man gerade nicht zurückgehen sollte, weil man dann wieder in die Fänge der Mythen  und der Rituale gerät. Und für Don Juan waren Mythen und Rituale... Mythen in dem Sinne, daß man Teil  dieser Matrix ist, ja, aber nicht in dem Sinne, daß man sie durch die Beschwörung bestimmter Kräfte in  Ritualen und Zeremonien lebt, alles Dinge, die vielleicht noch im 19ten Jahrhundert erfolgreich und sinnvoll  waren. Er sagte, wir würden einen gewaltigen Fehler machen, wenn wir nicht verstehen, daß der einzige und  ursprüngliche Zweck der Rituale das Einfangen und Fesseln der Aufmerksamkeit ist. Wenn dann deine  Aufmerksamkeit einmal eingefangen ist, gibt es auch keinen Grund mehr, am Ritual festzuhalten; man läßt es  einfach fallen. Aber als die schwerfälligen Affen, die wir nun einmal sind, finden wir sehr viel tröstenden  Beistand im Ritual. Aber Menschen die wirklich daran interessiert sind, ihr Wissen zu transzendieren, tun dies,  indem sie aus dem Teufelskreis der Rituale ausbrechen. Und dennoch ist der Rest der großen Masse weiterhin  vom Ritual hypnotisiert.

Ja, das sehe ich ein. Und das paßt auch zu Castanedas Aussagen, der euch als neue Seher beschreibt. Was  bedeutet das, und wie sind diese entstanden?

Florinda Donner: Die neuen Seher? Für Frauen bedeutet das vor allem, daß sie begreifen müssen, daß die  Gebärmutter nicht nur ein Fortpflanzungsorgan ist. Um nun die sekundären Funktionen dieses Organs zu  aktivieren, muß unsere Absicht geändert werden. Und um die Absicht ändern zu können, benötigen wir - wieder  einmal - Energie. Schau, wir haben zunächst einmal nicht die geringste Ahnung davon, was es bedeutet, die  Gebärmutter als Organ des Seins, als Lichtorgan, als Organ der Intuition zu nutzen. Für uns ist Intuition  tatsächlich etwas, das bereits definiert worden ist. Wir kennen gar keine echte Intuition mehr, weil wir bereits  mit unseren Köpfen intuieren. Don Juan hatte immer ein großes Interesse an den Frauen, und die Leute fragen  Castaneda immer wieder, "Hey, wie kommt es, daß immer so viele Frauen in euren Gruppen sind? Feiert ihr  Orgien? Treibt ihr es miteinander? Erzähl uns doch mal, was ihr da macht." Und er sagt, "Nein, das liegt nur  daran, daß Männer keine Gebärmutter haben. Wir brauchen diese magische 'Gebärmutter-Kraft'." Du siehst, das  ist eine sehr wichtige Kraft.

Laß mich in diesem Zusammenhang ein paar praktische Fragen stellen, im Namen meiner weiblichen Leser. Muß die Gebärmutter vollständig funktionstüchtig sein? Ich meine, wenn z.B. die Eileiter verwachsen sind, würde die Gebärmutter noch ihren Dienst tun?

Florinda Donner: Ja, solange keine Hysterektomie vorgenommen wurde.

Also solange die Gebärmutter nicht entfernt worden ist...

Florinda Donner: ...solange die Gebärmutter noch da ist, ja.

Dann kann sie in eurem Sinne funktionieren.

Florinda Donner: Oh ja, absolut. Das einzige, was dazu nötig ist, ist die entsprechende Absicht  heraufzubeschwören. Ähnlich wie dies in manchen dieser "Göttin-Kulte" versucht wird; du weißt schon, diese  "Wenn Gott eine Frau wäre"-Kulte. Aber leider gehen diese meistens am Wesentlichen vorbei. So hielt ich vor  einem Monat einen Vortrag vor einigen Frauen, und die meisten von ihnen waren Mitglieder in solchen Göttin- Gruppen. Sie erzählten mir, daß sie jeweils ein Wochenende im Monat im Wald verbrachten, irgendwo da oben  im Sequoia Nationalpark. Dort toben sie durch den Wald, klettern auf Bäume, und oh, sie lassen da so richtig  die Sau raus, debattieren, machen Rituale im Fluß und ähnliches. Und ich sagte zu ihnen: "Und was zur Hölle  macht ihr, wenn euer ach so tolles Wochenende vorbei ist? Ihr geht nach Hause und seid wieder die gleichen  Arschlöcher wie zuvor. Ihr macht eure Beine breit, wann immer euer Herr und Meister sagt, 'Ich brauche dich'."  Natürlich waren sie schockiert. Ich meine, sie haßten mich sogar insgeheim dafür, daß ich ihnen das gesagt  hatte, weil sie das nun gar nicht hören wollten. Sie sagten: "Aber wir haben uns diese drei Tage lang doch so  gut gefühlt." Und ich erwiderte: "Aber welchen Zweck hat es, sich drei Tage lang gut zu fühlen, wenn dein  Leben danach genauso beschissen weitergeht?" Diese Frauen sollten sich einmal fragen, wovon sie da  eigentlich Urlaub machen und vor allem, warum sie das machen. Wo liegt da der Sinn, wenn das Leben danach  doch wie gehabt weitergeht? Warum verändern wir uns nicht wirklich? Und dann diese Idee mit den Ritualen  und der Rückkehr zu den Glaubens- und Kultformen der Eingeborenen; sie haben nicht einmal damals  funktioniert, zumindest nicht in Hinsicht auf die Stellung der Frau. Wir wurden besiegt.

Also geht es um etwas, das hier und jetzt auf völlig authentische Weise gelebt werden muß.

Florinda Donner: Die Veränderungen müssen flüssig sein, und die Praktikerinnen müssen genauso flüssig  sein, um die Veränderungen akzeptieren zu können. Sogar in uns verändern sich die Dinge ständig, aber wir  achten nicht darauf, weil wir es uns auf unserer eigenen gewohnten Schiene so bequem gemacht haben - bis uns  dann eines Tages etwas aus dieser gar nicht so sicheren Bahn wirft. Und darüber ärgern wir uns dann, während  wir eigentlich nur flüssig sein müßten, um diesen Zustand zu nutzen. Nur eine ausreichende Menge Energie  wird uns diese Flüssigkeit verleihen.

Und wie kann man diese Energie ansammeln bzw. speichern?

Florinda Donner: Zuerst und gerade am Anfang, so pflegte Don Juan zu sagen, ist die sexuelle Energie die  beste Energie, die wir haben. Ich würde hinzufügen, daß es sogar die einzige Energie ist, die wir wirklich  haben, aber der Großteil unserer sexuellen Energie wird oder ist bereits verschwendet worden.

Gilt das für Männer und für Frauen im gleichen Maße?

Florinda Donner: Natürlich gilt das sowohl für Männer als auch für Frauen. Der einzige Unterschied ist, daß  die Frauen im energetischen Sinne mit der zusätzlichen Bürde belastet sind, daß sie die Männer über deren  energetische Fäden oder Würmer auch noch ernähren. In diesem Sinne ist es für die Frauen fataler. Aber für  den Mann nicht viel weniger, denn er wird dadurch festgelegt. In einem energetischen Sinne ist er festgelegt,  wie auch immer sich das konkret ausdrücken mag. Wir haben dann alle möglichen psychologischen  Erklärungen für die Folgen. So zum Beispiel für Leute, mit denen wir eine sexuelle Affäre hatten, und die wir  nun nicht mehr aus unseren Köpfen bekommen, oder was auch immer. Du siehst, wir haben hier eine Art  Grauzone der Beschreibung vor uns, aber was wirklich vor sich geht, findet auf einer völlig anderen Ebene  statt, über die wir nicht reden wollen oder können, weil das nicht Teil unserer kulturellen Ausrüstung ist.

Also ist der primäre Weg zur Ansammlung von Energie ein zölibatäres Leben?

Florinda Donner: Nun, das ist sehr schwierig, aber es ist auf jeden Fall ein guter Versuch, zumindest für den  Anfang.

Wenn sich nun eine Frau oder ein Mann zu eurer Tradition berufen fühlt, wenn sie dadurch "gepackt" worden  sind, wie du sagst, woran können sie das erkennen? Woran können sie erkennen, daß sie tatsächlich von dieser  Tradition gepackt worden sind, und nicht nur von irgendeiner verdammten Besessenheit?

Florinda Donner: Ich denke, Castanedas Bücher erklären das sehr deutlich... wenn du Castanedas Bücher sehr  gründlich und sorgfältig liest, dann sind sie fast so etwas wie praktische Handbücher.

Ja, das weiß ich. Man liest sie wieder und wieder, und irgendwann versteht man dann, worüber da eigentlich  geredet wird.

Florinda Donner: Du wirst wissen, wenn sich etwas geändert hat, weil du es auf energetischer Ebene spüren  wirst. Und dann gibt es da noch das Konzept davon, daß wir diese Vorstellung vom Selbst hinter uns lassen  können. Es ist nicht so, daß du dann hingehst und über die anderen lachst. Aber du findest sie widerwärtig und  verachtenswert, und doch willst du gleichzeitig nicht über sie urteilen, denn, wer zur Hölle sind wir schon, um  über irgendwen in irgendeiner Hinsicht zu urteilen? Du weißt nur, daß du nicht mehr teilhast an diesem  Maskenball, an dieser allgegenwärtigen Präsentation der Selbste im Sinne der sozialen Übereinkunft. Dein  Selbst, deine Maske kommt dir vor wie ein gefälschter Teil von dir, wie ein unechtes Anhängsel, welches du  allerdings brauchst, um in der Welt zu funktionieren. Dazu mußt du immer noch eine kohärente  Selbstvorstellung vorweisen können. Weißt du, Don Juan sagte immer, daß man, wenn eine ehrliche Veränderung stattgefunden hat, nicht  abgewiesen werden kann, was immer es auch bedeutet, abgewiesen zu werden. Ich weiß es nicht. Von der Absicht, die mit uns in Kontakt kommt? Ich weiß es wirklich nicht. Jedenfalls sind zwei Leute mit uns in  Kontakt gekommen, und die sind nun bei uns. Das darfst du nicht falsch verstehen, denn wir sind ohnehin nie  zusammen; jeder von uns lebt sein eigenes Leben, und nur von Zeit zu Zeit treffen wir uns. Ursprünglich hatten  wir diese kleine Klasse, wenn Castaneda im Lande war. Er lehrt dort bestimmte sehr interessante Bewegungen,  die vor allem dazu dienen, Energie aufzuspeichern. Und diese beiden Leute sind zwei Jahre lang zu diesen  Treffen gekommen, und sie verändern sich nach und nach. Und das ist wirklich faszinierend. Du siehst, wenn  du etwas losläßt, wird etwas in dir das wissen.

Etwas anderes in dieser Richtung: Du hast nun - unter anderem - dieses Buch veröffentlicht, und ich habe es  gelesen. Nun habe ich dadurch noch keine physische Vorstellung von dir, aber meine Gefühle formen ein  gewisses Bild davon, wer du sein könntest, oder woran du mich erinnerst. Jetzt interessiert mich, ob dich das  Energiefeld all der Leser, die dein Buch in der Welt da draußen lesen, irgendwie beeinflußt oder beeinträchtigt.

Florinda Donner: Eines der Dinge, die Don Juan Castaneda sehr klar gemacht hat... Schau, wenn das Buch  einmal raus ist, dann ist es raus. Es hat nichts mehr mit dir zu tun. Aber natürlich ist es sehr schwer, sich von  den Gedanken, Fragen und Hoffnungen, wie z.B. "kommt das Buch an?", zu trennen. Weil man irgendwie  selbst darin verwickelt ist. Wirklich ganz loszulassen ist sehr, sehr schwer. Bei meinen zwei ersten Büchern -  Shabono und Die Lehren der Hexe - war es vergleichsweise einfach. Mit diesem Buch ist das nicht so; es ist  sehr schwierig, weil ich hier das erste Mal wirklich über meine Verbindung zu Don Juan rede. Und vielleicht  auch, weil ich hier das erste Mal wirklich offen rede - in den anderen Büchern tat ich das nicht. Mit diesem  Buch bin ich wesentlich stärker verbunden. Ich habe auch Lesungen und Vorträge in Buchhandlungen  abgehalten, die sehr interessant waren, wie ich schon angedeutet habe, und da waren sehr viele Leute, die  wirklich sehr ernsthaft interessiert waren, aber meistens wieder nur im intellektuellen Sinne.

Ich denke aber, daß einige Wenige auch über die intellektuelle Stufe hinausgegangen sind.

Florinda Donner: Bestimmt gibt es solche Leute. Das glaube ich auch, ja.

Wenn wir schon über verschiedene Leute reden, dann laß uns auch über verschiedene Arten von leuchtenden  Körpern sprechen. Manche Leute lesen eure Bücher, und dann ist plötzlich die Stunde der Selbsterkenntnis  gekommen.

Florinda Donner: Ganz genau, ja.

Also bewirken die Bücher mithin eine Veränderung in der Selbstwahrnehmung ihrer Leser.

Florinda Donner: Ja. Es geht uns ja auch grundsätzlich darum, wie wir die Welt wahrnehmen, und um das  Zerbrechen jener Parameter der alltäglichen Wahrnehmung, auch in Hinsicht auf die Wahrnehmung des  eigenen Selbst. Aber, wir wollen dabei nicht das Ich im Mittelpunkt von allem stehen haben. Wir wollen  Zeugen sein. Weil alles in unserer Gesellschaft durch das Ich gefiltert ist, sind wir nicht einmal dazu fähig, auch  nur die kleinste Geschichte oder Erinnerung zu erzählen, ohne uns selbst gleich zum Protagonisten, zum  Hauptdarsteller zu machen. Und das machen wir immer so. Don Juan war hingegen daran interessiert, die  Geschichten und Ereignisse selbst ihren Lauf nehmen zu lassen, sie sich selbst entwickeln zu lassen. Und dann  werden sie unendlich viel reicher in jeder Hinsicht, weil sie sich dann selbst öffnen. Betrachte das Zeuge sein  als eine Übung, die du in der Alltagswelt praktizieren kannst; sei einmal nicht der Hauptdarsteller. Es ist  bemerkenswert, was sich dann alles öffnet.

Irgendwo in euren Büchern beschreibt ihr, daß der Seher oder der Nagual irgendwann auf seinem langen Pfad  eine Periode der Mutlosigkeit, der Niedergeschlagenheit erlebt, in der er oder sie sich sicher ist, daß alles  schief gehen wird, daß so bald gar nichts passieren wird. Und der Grund, warum ich das anspreche, ist, daß ich  spüre, daß dieses Gefühl zur Zeit weltweit bestimmend ist und von vielen Leuten geteilt wird. Kannst du dazu  etwas sagen?

Florinda Donner: Aber sicher doch. (Sie lacht) Und ich werde diese Depression wohl noch verschlimmern  müssen. (Sie beruhigt sich wieder etwas) Nein, das ist schon wahr. Etwas in uns weiß ganz genau, was los ist,  und daher erzielen die Lehren von Don Juan auch heute diese Wirkung. Vom Standpunkt der Natur aus ist der  primäre Imperativ der Fortbestand der Spezies, und daran sind wir nicht länger interessiert. Wir sind an  Evolution, an Entwicklung interessiert, weil Entwicklung ein gleichwertiger, wenn nicht gar der Fortpflanzung  übergeordneter Imperativ ist. Und das, weil, wenn wir uns nicht entwickeln, nicht in etwas anderes mutieren,  dann werden wir uns wahrhaftig selbst von diesem Planeten entfernen, und ich denke, das wird unwiderruflich  sein. Wir haben unsere Ressourcen aufgebraucht, und ich meine, vollständig aufgebraucht. Und ob wir nun 50  oder 100 weitere Jahre haben mögen, ist im Sinne der Zeitrechnung der Erde als Planeten vollkommen  belanglos. Es spielt nicht die geringste Rolle. Als Spezies sind wir dem Untergang geweiht. Und in diesem  Sinne ist Evolution der einzige Ausweg. Und die Evolution liegt, wie Don Juan betont hat, in den Händen der  Frauen, und nicht in denen der Männer.

Und was mache ich als Mann? Einfach rumsitzen und darauf warten, daß die Frauen die Welt retten?

Florinda Donner: Ja und nein. Der Mann muß ganz allgemein auf seine Macht verzichten, und das wird er  nicht tun, zumindest nicht kampflos. Das wird er ganz bestimmt nicht. Ich will damit nicht sagen, daß ihr euch  hinstellt, auf euren Brustkorb trommelt und sagt: "Ich werde meine Macht nicht abgeben!" Nein, es ist  wesentlich heimtückischer als das.

Erkläre das bitte genauer. Rede einfach weiter.

Florinda Donner: Nun gut, ich denke, das sind Sachen, die sonst nicht ausgesprochen werden. Nimm z.B.  diese sensiblen Männer, die an Männergruppen teilgenommen haben, und die versuchen, ihre Spiritualität zu  finden. Und in diesem Prozeß kommen sie in völligen Einklang mit ihren Frauen, Partnern, Lebensgefährtinnen  - aber nicht wirklich. Da gibt es bestimmte Dinge, die sie nicht abgeben wollen; es ist zu bedrohlich. Auch  wenn die ganze Männerbewegung ursprünglich eine echte spirituelle Bewegung war. Aber irgend etwas im  Mann fühlt sich bedroht. Es ist die Furcht etwas loszulassen, von dem einige von ihnen ganz genau wissen, daß  sie es loslassen müssen, wenn wir als Spezies noch eine Chance haben wollen. Wir wissen ganz genau, daß der  Frau Zeit eingeräumt werden muß, und daß ihr auch in der Vergangenheit immer wieder Zeit eingeräumt  wurde, um etwas zu entwickeln. Z.B. mußte, um den aufrechten Gang zu gewährleisten, die Vagina ihre Lage  verändern, nun, und wer mußte sich anpassen? Der Mann. Der Penis mußte in Folge größer werden. Und jetzt  braucht die Frau wieder Zeit. Und der Mann wird ihr diese Zeit einräumen müssen. Er muß der Frau Zeit dazu  geben, ihre Gebärmutter auf ihre bislang sekundäre Funktion umzuschalten.

Und das kann nicht geschehen, solange der Mann die sexuelle Beziehung zur Frau aufrecht erhält. Ist es das,  was du sagen willst?

Florinda Donner: Nein. Schau, es müssen einfach genug Frauen Zeit dazu bekommen, daß sich etwas in der  Gebärmutter ändert. Sie müssen neue Möglichkeiten entwickeln. Don Juan sagte, unsere Entwicklung ist eine  Sache der Absicht. Das besagt, daß auch der Sprung von den Reptilien zu den Vögeln, das Konzept der  Flügel,beabsichtigt wurde. Es war ein Akt der Absicht.

Das ist sehr interessant. Also denkst du, daß derzeit Frauen in aller Welt, Schwesterschaften verschiedener Art,  eine neue Zukunft des Menschen beabsichtigen?

Florinda Donner: Sie sind sich dessen nicht bewußt. Einige Frauen hingegen, so denke ich, sind es  vollkommen.

Also bekommt der Mann nun einen Rücksitz im Prozeß der Evolution der Arten zugewiesen.

Florinda Donner: Ganz richtig. Aber es ist kein Rücksitz. Ein solches Wort verknüpft die Angelegenheit  wieder mit einer Wertung. Das ist es nicht, um was es geht. Ihr müßt einfach nur Zeit zur Verfügung stellen.

Wie kann ein Mann das tun? Sage mir, wie das praktisch vor sich gehen kann.

Florinda Donner: Frauen werden immer noch als zweite Klasse Bürger betrachtet. Egal welche Macht wir haben, wir haben immer noch keine wirkliche Macht. Wir entscheiden gar nichts. Und selbst in Gesprächen in  kleinen Gruppen ist das der Fall, es ist, als ob man mit dem Kopf gegen eine Stahltür rennt, weil, wer immer  entscheidet, wer immer die Macht hat, sie auf keinen Fall abgeben wird. Oder schau dir die politische Ebene an,  z.B. Washington oder eure Hauptstadt. Glaubst du, diese Männer da oben würden uns auch nur einen Moment  lang zuhören? Keine Chance. Aber irgendwelche Nischen müssen gefunden werden, um etwas Neues zu  entwickeln. Ansonsten sind wir zum Untergang verdammt. Und damit meinen wir nicht primär die Vorstellung  von der Zerstörung des Planeten und der Umwelt; es ist unsere Spezies, die nicht überleben wird. Die Erde wird  ganz sicher überleben. Es mag sein, daß sie in eine Art globalen Winter fällt, aber da wird sie wieder  herauskommen. Wir als Art werden hingegen nicht überleben.

Warum würde eine Frau wohl dein Buch Being-in-Dreaming lesen?

Florinda Donner: Eine sehr interessante Frage, hmm? Nun, wenn nicht aus anderen Gründen, dann denke ich,  die Leute die an Castanedas Büchern interessiert waren, könnten auch daran interessiert sein, das Ganze aus der Perspektive einer Frau zu betrachten, die bereits über zwanzig Jahre in dem Bereich Erfahrungen gesammelt  hat. Ich gehe die Dinge anders an, sicher wesentlich direkter. Die Hauptsache ist die Wahrnehmung. Sogar  unsere menschlichen Körper... der Körper ist wiederum eine Folge der Wahrnehmung. Wir sind darin als  Personen gefangen; wir sind in unserer Sprache gefangen. Und genau aus dieser Gefangenschaft wollen sich die  Zauberer - durch das Medium der Energie - befreien.

Original: Dimensions, Febr. 1992

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